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2. September 2025
100 Jahre Naturfreunde Schweiz: Vom Arbeiter:innenverein zum Umweltverband
Wikimedia
Foto: Wikimedia Eine Aufnahme der Naturfreundehütte auf dem Säntis. Der Poststempel besagt, dass die Karte aus dem Jahr 1916 stammt - also neun Jahre vor dem Zusammenschluss der Sektionen in den gemeinsamen Verband.

Die arbeitende Bevölkerung näher an die Natur bringen – mit diesem Ziel haben sich vor 100 Jahren die Naturfreunde Schweiz gegründet. Heute zählt der Verband über 12’000 Mitglieder. Ein Gespräch mit Historikerin Beatrice Schumann.

RaBe Info: Die ersten Sektionen der Naturfreunde entstanden bereits 1905. 1925 – also vor 100 Jahren – schlossen sie sich zu einem gemeinsamen Verband zusammen. Wie wichtig war dieser Zusammenschluss ?

Beatrice Schumann: Der Zusammenschluss war ein Schritt, der von den Naturfreunden International angestossen wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg war der Sozialismus nicht mehr einheitlich – es gab eine sozialdemokratische und eine kommunistische Richtung, was zu Spannungen führte. Zudem war die Bewegung, die seit 1895 besteht, sehr gross geworden. Europa war nach dem Krieg nicht mehr dasselbe: Nationalisierungen setzten ein. Der zuvor wichtige Internationalismus musste zurückstecken und sich dieser politischen Realität anpassen. Das entsprach zwar nicht dem Ideal der frühen Sozialisten, führte aber zu diesem Zusammenschluss auf nationaler Ebene.

«Die Naturfreunde gehörten zu den Kulturorganisationen. Das war immer das dritte Standbein neben Partei und Gewerkschaft.»
Beatrice Schumann Historikerin

RaBe Info: Die Idee der Naturfreunde entstand nicht in der Schweiz, sondern in Österreich. Es ging darum, die Natur der Arbeiterschaft näherzubringen. Sie sprechen in Ihrem Buch von einer «proletarischen Eroberung der Freizeit». Welche Bedeutung hatte dieser Freizeitverein für die Arbeiter:innenbewegung?

Beatrice Schumann: Die Naturfreunde gehörten zu den Kulturorganisationen. Das war immer das dritte Standbein neben Partei und Gewerkschaft. Partei- und Gewerkschaftsgenossen hatten oft wenig Verständnis für die Anliegen der Naturfreunde, die da einfach so in der Gegend herumgelaufen sind. Doch die frühen Naturfreunde verfolgten ein Bildungsideal. Es ging darum, einen neuen Menschen heranzubilden, der die Basis für eine veränderte Welt bilden sollte.

RaBe Info: Aus dieser Idee entstand auch die bekannte Grussformel «Berg frei». Was genau bedeutet sie?

Beatrice Schumann: In der damaligen Donaumonarchie Österreich-Ungarn gab es riesige Ländereien im Privatbesitz, durch die man nicht einfach wandern durfte. Die Forderung, Zugang zur Natur zu haben, manifestierte sich in diesem Gruss «Berg frei».

«Die Hütten und die Bergwelt waren für Leute aus der Arbeiterschicht nicht wirklich zugänglich – nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch wegen der sozialen Schranken.»
Beatrice Schumann Historikerin

RaBe Info: Und wie war das in der Schweiz?

Beatrice Schumann: In der Schweiz waren die Besitzverhältnisse zwar etwas anders, aber auch hier gab es viel privaten Grund. Zudem war der Schweizer Alpen-Club, den es bis heute gibt, eine bürgerliche, reine Männervereinigung. Die Hütten und die Bergwelt waren für Leute aus der Arbeiterschicht nicht wirklich zugänglich – nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch wegen der sozialen Schranken.

RaBe Info: Während des Zweiten Weltkriegs gerieten die Naturfreunde unter Druck. 1934 wurden sie nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland und auch in Österreich verboten. Welche Folgen hatte das für die Schweizer Naturfreunde?

Beatrice Schumann: Der Sitz der Naturfreunde International wurde von Wien nach Zürich verlegt. Die Schweizer Naturfreunde galten als weniger politisiert. Damit wurde die Schweiz zum Zentrum der Bewegung, weil es hier noch möglich war, die Organisation weiterzuführen.

«Das Naturfreundehaus als Symbol und Aushängeschild verlor an Bedeutung, weil man nicht mehr zwingend auf günstige Ferien vor Ort angewiesen wa»
Beatrice Schumann Historikerin

RaBe Info: Nach dem Zweiten Weltkrieg stand der Verband vor neuen Herausforderungen. Der Wohlstand nahm zu, die Forderung nach erschwinglichen Ferien wurde leiser, während ökologische Themen mehr Gewicht erhielten. Wurden die Naturfreunde zu einem Naturverein ohne sozialistische Ideale?

Beatrice Schumann: Eine Tendenz dazu gab es, aber einfach «Ja» kann man nicht sagen. Zunächst war die politische Herausforderung entscheidend: In den frühen 1950er-Jahren schlossen die Naturfreunde die kommunistischen Mitglieder aus. Damit beruhigten sich die Konflikte, die während und nach dem Krieg die Bewegung erschüttert hatten. Danach kam der kollektive Wohlstand; die goldenen Fünfziger- und Sechzigerjahre. Das Naturfreundehaus als Symbol und Aushängeschild verlor an Bedeutung, weil man nicht mehr zwingend auf günstige Ferien vor Ort angewiesen war.

RaBe Info: Und wie kamen die ökologischen Themen zu den Naturfreunden?

Beatrice Schumann: Obwohl «Natur» im Namen steht, waren die Naturfreunde nicht per se ökologisch. Erst in den 1980er-Jahren kam der Aufbruch: Man wollte verkrustete Strukturen aufbrechen und Überalterung überwinden. Es war die Idee, an die damals aufkommende Umweltpolitik anzuknüpfen, von der Welle der neuen Grünen zu profitieren und die Organisation zu modernisieren.

«Es könnte also sein, dass die Naturfreunde zu einem Verein engagierter Seniorinnen und Senioren für Umwelt werden. Und das wäre ja auch nicht schlecht.»
Beatrice Schumann Historikerin

RaBe Info: Machen wir einen Sprung in die Gegenwart: Wo stehen die Naturfreunde heute?

Beatrice Schumann: Die Naturfreunde sind weiterhin ein nationaler Verband mit zahlreichen Sektionen. In den letzten Jahren haben sie es geschafft, sich wieder auf ihre früheren Werte zu besinnen: Gemeinschaft, gesellschaftliches Engagement und Nachhaltigkeit im eigenen Verhalten. Es geht um Sorge für die Natur, in der man sich bewegt. Lange Zeit – etwa um die Jahrtausendwende – war der Verband in einer Orientierungskrise. Heute steht er vor grossen Herausforderungen: Das Durchschnittsalter liegt über 50, vielleicht sogar über 60. Es könnte also sein, dass die Naturfreunde zu einem Verein engagierter Seniorinnen und Senioren für Umwelt werden. Und das wäre ja auch nicht das Schlechteste.

Beatrice Schumann ist Historikerin und hat zu den Naturfreunden in der Schweiz geforscht. Ihr Buch Engagiert unterwegs ist beim Hier und Jetzt Verlag erschienen.

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