Bis 2030 wollten die UNO Mitgliedsstaaten den Hunger auf der Welt beseitigen. Das Ziel rückt gemäss dem 20. Welthunger-Index in die Ferne. Diese Datenerhebung erschien im vergangenen Monat. Die Entwicklungsorganisation Helvetas hat den globalen Hungerindex in diesem Jahr finanziell unterstützt. Obwohl genügend Nahrungsmittel produziert werden, nimmt der Hunger in vielen Regionen wieder zu. Bewaffnete Konflikte, Klimaveränderungen und wirtschaftliche Krisen verschärfen die Situation. Diese neusten Daten zur weltweiten Ernährungskrise und zu Lösungsansätze werden heute Abend in Bern diskutiert. Wir haben mit Reguly Rytz, Präsidentin von Helvetas Schweiz über die Ursachen, Folgen und Lösungsansätze im Kampf gegen den Hunger gesprochen.
Regula Rytz: Hunger bedeutet zuerst einmal, dass Menschen unterernährt sind – also zu wenig Kalorien haben, um zu arbeiten, genug Kraft zu haben oder sich zu entwickeln, vor allem Kinder. Hunger hat aber auch andere Dimensionen. Es geht zum Beispiel darum, was die Leute essen. Ist es gesund? Haben sie genug Vitalstoffe und Vitamine? Wenn sie zu wenig Nahrungsmittel haben, entsteht eine Fehlernährung. Das erhöht die Auszehrung oder die Kindersterblichkeit.
Das Wichtigste ist, dass wir uns immer wieder vor Augen führen, dass es eigentlich genug Lebensmittel auf der Welt gibt, um alle Menschen zu ernähren. Seit den letzten grossen globalen Krisen – etwa der Covid-Pandemie – haben sich die Ernährungssysteme jedoch stark verschoben. Nahrungsmittel und deren Transport wurden teurer. Das führt dazu, dass Menschen in schwierigen Ländern Mahlzeiten auslassen oder ihren Kindern nicht genug zu essen geben können, auch nicht für die Schule. Diese Krisensituationen haben zugenommen. Vor allem die bewaffneten Konflikte sind stark angestiegen. Dort ist der Hunger heute am grössten – etwa im Sudan, wo Menschen akut vom Hungertod bedroht sind, oder in Gaza, wo rund eine halbe Million Menschen, vor allem Kinder, betroffen sind. Die Verdoppelung der bewaffneten Konflikte hat klar zu einer Verdoppelung des akuten Hungers geführt.
Es sind vor allem Kinder. In den betroffenen Ländern leben viele Kinder, und auch dort, wo keine akute Hungersnot herrscht, sondern eine konstante Unterernährung, sind Kinder, Frauen und Mütter besonders betroffen. Darum müssen wir dort ansetzen. Was wir ebenfalls sehen: Sowohl die ländliche als auch die städtische Bevölkerung leidet stark. Auf dem Land führt die globale Erwärmung zu grossen Problemen. In vielen Regionen gibt es zu wenig Wasser, dann plötzlich zu viel – mit Überschwemmungen. Saatgut geht verloren, Tiere sterben. Das sind systemische Veränderungen, die langfristig auch die Versorgung in Städten beeinträchtigen. Gleichzeitig zeigt der Welthungerindex aber auch, dass es in den letzten Jahren Verbesserungen gab, von denen wir lernen und Voraussetzungen auf andere Länder übertragen können.
In Nepal hat die Regierung erkannt, dass es ein Recht auf Ernährung braucht. Dieses Recht wurde sogar in der Verfassung und in Gesetzen verankert. Es gibt dort einen ganzen Katalog an Massnahmen, wie die Ernährungssituation verbessert werden soll. Dazu gehören besseres Saatgut, neue Bewässerungssysteme und Informationsprogramme für Bäuerinnen und Bauern, wie sie unter veränderten Klimabedingungen mehr produzieren können. Ebenso wichtig ist die Ernährungssicherheit für Mütter und Kinder: Gesundheitspersonal besucht Mütter nach der Geburt, fragt, ob sie genug Nahrungsmittel und Vitamine haben, und hilft bei Bedarf. Ein weiteres Beispiel sind Schulmahlzeiten – Kinder erhalten in der Schule genug zu essen, was ihre Gesundheit deutlich verbessert hat.
Hunger wird heute leider oft als Waffe eingesetzt. Im Sudan zum Beispiel gibt es Belagerungen von Städten, die Menschen werden ausgehungert. In solchen Situationen müssen wir anders ansetzen – etwa beim internationalen Waffenhandel oder bei faireren Handelsbeziehungen. Menschen müssen mit ihrem Einkommen die Nahrungsmittel kaufen können, die sie brauchen. Hunger ist nicht nur eine Frage der Produktion und Verteilung, sondern des gesamten Umfelds. Damit Menschen genügend Nahrungsmittel haben, braucht es faire Einkommen und eine sichere Welt ohne Waffen.
Viele Länder, auch in Südasien, haben erkannt, dass sie selbst aktiv gegen Hunger vorgehen müssen – und tun das auch. Doch viele brauchen weiterhin Unterstützung. Projekte wie jene in Nepal konnten dank der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit oder anderen internationalen Organisationen umgesetzt werden. Heute gibt es jedoch ein grosses Problem: In vielen Ländern – vor allem in den USA, aber auch in der Schweiz – wurden die Entwicklungsgelder in den letzten Jahren gekürzt, und weitere Kürzungen stehen bevor. Das verschärft die aktuelle Krise und erschwert den Kampf gegen Hunger zusätzlich.
Die Entwicklungsorganisation Helvetas hat den globalen Hungerindex in diesem Jahr finanziell unterstützt.
Diese neusten Daten zur weltweiten Ernährungskrise und zu Lösungsansätze werden heute Abend in Bern diskutiert. Die Veranstaltung von Helvetas findet heute zwischen 16:30 und 17:45 im Haus der Universität in Bern statt. Die Veranstaltung ist auf English eine Online-Teilnahme ist ebenso möglich. Mehr Informationen dazu gibt es hier.
Regula Rytz ist Präsidentin der Entwicklungsorganisation Helvetas Schweiz. Das ganze Interview zum Nachhören: