Hunderttausende Kinder wurden in der Schweiz bis in die 1980er-Jahre von den Behörden oder den eigenen Familien in Heime oder auf Bauernhöfe verdingt. Viele erlebten dort Gewalt, Ausbeutung und Entwurzelung. Die Berner Filmemacherin Corinne Küenzli widmet sich in ihrem neuen Dokumentarfilm Nebelkinder den Nachkommen dieser Betroffenen. Der Film begleitet vier Menschen, die das Schweigen ihrer Familien brechen und sich der verdrängten Vergangenheit stellen.
Zum Kinostart in Bern hat RaBe-Redaktorin Sarah Heinzmann mit der Regisseurin Corinne Küenzli und der Protagonistin Sabine Mackintosh über Erinnerung, Heilung und intergenerationelle Traumata gesprochen.
RaBe: Corinne Küenzli, dein Film „Nebelkinder“ erzählt von den Nachkommen der sogenannten Verdingkinder. Wie ist der Titel entstanden?
Corinne Künzli: Der Titel kam ganz spät im Entstehungsprozess. „Nebelkinder“ fand ich deshalb passend, weil er eine gewisse Unschärfe und Unsichtbarkeit ausdrückt. Also etwas, das sowohl die Vergangenheit der Verdingkinder als auch ihre Nachkommen betrifft. In Deutschland bezeichnet man als „Nebelkind“ übrigens die Enkelgeneration der Betroffenen. Das fand ich sehr treffend, denn genau diese Generation trägt die Spuren der Verdingung oft noch in sich.
RaBe: Sabine Mackintosh, du bist eine der vier Protagonistinnen im Film. Was hat dich dazu gebracht, dich mit der Geschichte deiner Mutter auseinanderzusetzen?
Sabine Mackintosh: Meine Mutter ist in Bern geboren, als uneheliches Kind. Sie wurde zuerst in einem Heim untergebracht und später verdingt. Über ihre Vergangenheit hat sie kaum gesprochen. Aber sie hatte Albträume, die sie ihr Leben lang begleiteten. Ich wollte verstehen, was dahinter steckt. Durch Recherchen in Archiven und mit Unterstützung von Fachleuten habe ich Stück für Stück ihre Geschichte zusammengesetzt. Diese Suche war schmerzhaft, aber auch befreiend.
RaBe: Deine Mutter war anfangs zurückhaltend, als du begonnen hast, Fragen zu stellen. Wie hat sich euer Verhältnis durch die Auseinandersetzung verändert?
Mackintosh: Es war ein langer Prozess. Meine Mutter war es nicht gewohnt, über sich zu reden, und ich wollte sie auch nicht überfordern. Aber je mehr wir gemeinsam herausfanden, desto mehr entstand ein gegenseitiges Verständnis. Ich habe begriffen, dass ihr Verhalten nicht Ausdruck von Lieblosigkeit war, sondern eine Folge dessen, was sie selbst erlebt hatte. Dieses Verständnis heilt nicht alles, aber es macht vieles weniger hart.
RaBe: Corinne Künzli, dein Film zeigt nicht nur Einzelschicksale, sondern auch die Weitergabe von Traumata über Generationen. Warum war dir dieser Aspekt so wichtig?
Küenzli: Als ich 2014 mit der Recherche begann, wollte ich zunächst vier einzelne Porträts drehen. Doch in den langen Gesprächen mit den Protagonist:innen wurde mir klar, wie sehr das Thema Generationen verbindet. Wenn etwa eine Tochter mit ihrer Mutter spricht, passiert etwas anderes, als wenn ich als Regisseurin Fragen stelle. Diese Dialoge wirken fast heilend. Ich habe gemerkt, dass es den Beteiligten guttut, gemeinsam über das Erlebte zu sprechen. So wurde der intergenerationelle Austausch zum zentralen Element des Films.
RaBe: Sabine, auch du sprichst von einem persönlichen Heilungsprozess. Was hat sich für dich während der Dreharbeiten verändert?
Mackintosh: Der Film hat mir geholfen, meine Familiengeschichte nicht länger als etwas Bedrohliches zu sehen, sondern als etwas, das man anschauen und verstehen kann. Ich habe gelernt, dass ich die Vergangenheit meiner Mutter nicht ändern kann, aber ich kann ihr mit Mitgefühl begegnen. Das hat uns einander nähergebracht.
RaBe: Der Film wird im Kino Rex in Bern gezeigt, parallel läuft im Historischen Museum eine Ausstellung zum Thema Verdingkinder. Welche gesellschaftliche Wirkung erhoffst du dir von „Nebelkinder“?
Küenzli: Ich hoffe, dass der Film Gespräche anstösst; in Familien, aber auch in der Gesellschaft. Viele wussten gar nicht, dass es so viele Verding- und Heimkinder gab. Für mich war erschütternd zu erfahren, wie normal dieses System lange galt. Erst die nächste Generation kann sagen: Das war Unrecht. Nach der Premiere in Solothurn haben mir Menschen erzählt, dass sie aufgrund des Films erstmals über ihre Familiengeschichte gesprochen oder sogar einen Solidaritätsbeitrag beantragt haben. Wenn der Film dazu beiträgt, dass solche Gespräche möglich werden, dann hat er seinen Zweck erfüllt.
RaBe: Vielen Dank für das Gespräch und den Einblick in diese wichtige Arbeit.
Der Dokumentarfilm „Nebelkinder“ von Corinne Küenzli läuft im Kino Rex Bern. Der Film erzählt die Geschichten von vier Nachkommen ehemaliger Verdingkinder: Ein Plädoyer gegen das Schweigen und für das Erinnern.