Poesie, so erklärt Nguyen, sei kein Text, der schlicht gelesen werde, sondern ein lebendiges Erbe. In der vietnamesischen Kultur diente sie über Generationen hinweg als Mittel der Weisheit, der Weitergabe und des Widerstands. Formen wie ngâm thơ, bei denen Gedichte gesungen und improvisierend begleitet werden, verkörpern eine Tradition, in der Stimme, Musik und Körper verschmelzen. Diese orale Praxis führt Cat Nguyen in der eigenen Performances fort, indem Stimme, Bewegung, Raum, Instrumente und Kleidung zu einem lebendigen Gedicht verwoben werden.
Auch der Blick auf Politik und Identität sei geprägt von dieser Vielschichtigkeit, so Nguyen. Als in den USA geborener Nachkomme vietnamesischer Geflüchteter beschreibt Nguyen sich als „diasporische*r Träumer*in“ – jemand, der zwischen Sprachen, Welten und Erinnerungen navigiert. Dieser Zwischenraum, oft geprägt von Entfremdung und Ungewissheit, eröffnet zugleich eine Perspektive jenseits enger Kategorien. „Ein Körper kann viele Leben, Welten und Generationen in sich tragen“, sagt Nguyen.
Ein zentraler Aspekt Nguyens künstlerischen Ausdrucks ist queere Spiritualität. Nach zwei Jahrzehnten im Westen, wo queere Existenz mit ständiger Bedrohung einherging, fand Nguyen erst nach der Rückkehr nach Vietnam ein Gefühl von Sicherheit und Menschlichkeit wieder. Auch wenn Queerfeindlichkeit in Vietnam existiere, falle dort das Gefühl permanenter Gefährdung weg – ein Zustand, der es Nguyen ermöglicht, Kreativität und Spiritualität aus einer neuen, befreiten Perspektive zu leben. Für Nguyen bedeutet queere Spiritualität die Kraft der Imagination: die Fähigkeit, sich eine Welt jenseits von Unterdrückung vorzustellen und so Widerstand zu üben.
Nguyens jüngstes Projekt, ein performatives poetisches Video, ist zugleich persönlich und transgenerational. Es ist der eigenen Grossmutter gewidmet, die Nguyenaufgezogen hat und deren Körper, Sprache und Musik lange die einzige Brücke zu Vietnam waren. Nach deren Tod begann Cat Nguyen, die eigene Entwurzelung neu zu begreifen. Das Video verbindet Aufnahmen des đàn tranh, dem Instrument der Großmutter, mit Wellen aus Kalifornien. Ein Symbol der Distanz, die Grossmutter und Enkelin auf ihren jeweiligen Lebenswegen überqueren mussten. Der Film wird so zu einem Liebesgedicht, aber auch zu einer Einladung, über das Erbe unserer Vorfahren nachzudenken und über die Zyklen von Trauer, Weitergabe und Erneuerung.